Jazz lebt vom Moment und vom Publikum: warum das JazzBaltica in Timmendorfer Strand auch ohne Zuschauer ein Erfolg war, beschreibt eine, die dort aufgetreten ist: die Hamburger Bassistin Lisa Wulff.
Dreißig Jahre JazzBaltica-Festival – das sollte am vergangenen Wochenende gefeiert werden. Etwas Besonderes waren diese zwei Tage tatsächlich – allerdings keine Jubiläumsfeier, wie sie sich Nils Landgren, künstlerischer Leiter des Festivals, eigentlich gewünscht hatte. Statt diverser Bühnen, unzähliger Musiker und Zuhörer, die in feierlicher Stimmung zwischen den Venues hin und her schlendern, um die Vielfalt des Festivals zu genießen, stand das diesjährige Festival im Zeichen von Kontaktbeschränkungen, Desinfektionsmitteln und Masken. Nur der Livestream des ZDF machte die 2020er Ausgabe der JazzBaltica überhaupt möglich.
Vor der Tür des Maritim-Hotels positionierten sich die Ü-Wagen, im Konzertsaal wurde der Zuschauerraum zur Bühne umfunktioniert, aber im Hotel, sonst randvoll mit Festivalgästen, bekam man nichts davon mit. Als ich am Freitagnachmittag, mit E-Bass auf dem Rücken, Pedalboard in der Hand und Maske im Gesicht in den Fahrstuhl stieg, sprach mich ein Hotelgast erstaunt an: „Ich dachte, Live-Musik gibt es nicht mehr?“
So ähnlich fühlt es sich auch an. Die letzten Monate bedeuteten für viele Kollegen einen völligen Stillstand ihrer sonstigen Tätigkeit. An manchen Tagen konnte man sich mangels Aussichten auf Besserung schon mal so fühlen, als gäbe es unseren Beruf eigentlich gar nicht mehr. Dieses Wochenende war ein Lichtblick: endlich wieder mit Musikerkollegen zusammentreffen, auf eine Bühne gehen und gemeinsam Musik machen! Obwohl viele entscheidende Aspekte fehlten: Publikum, Applaus, Stimmung, Ausgelassenheit – all das, was das Live-Geschäft ausmacht. Gerade unsere Musik, der Jazz und die Improvisation, lebt vom Moment und damit auch vom Publikum.
Für die vielen schwedischen Musiker begann das Festival mit Hausarrest. Alle eintreffenden Personen mussten sich einem Corona-Test unterziehen und bis in die Abendstunden auf ihren Zimmern bleiben, bis dann endlich gegen 19:30 Uhr die (sämtlich negativen) Testergebnisse kamen. Ich bereitete mich auf meinem Hotelzimmer auf die bevorstehenden Proben und Konzerte vor, während ich aus dem Nebenzimmer meine Basskollegen hören konnte. Eva Kruse belegte das Zimmer rechts neben mir, Lars Danielsson eines im Stockwerk darüber. Das freudige Wiedersehen auf Abstand, ausbleibende Umarmungen und unbeholfenes Aus-dem-Weg-gehen in der Probe der sonst heillos albernen und kontaktfreudigen Viktoria war schon sehr merkwürdig, aber am sonderbarsten bleibt sicher das Gefühl, nach dem ersten Stück vergeblich auf Applaus zu warten.
In Bühnenoutfits betraten wir um 14 Uhr den dunklen Konzertsaal des Maritim-Hotels und es fühlte sich für einen kurzen Moment normal an. Der Band um Sängerin Viktoria Tolstoy, Rasmus Kihlberg am Schlagzeug, Joel Lyssarides am Klavier und mir am Kontrabass, merkte man an, dass sie sehnsüchtig und viel zu lange darauf gewartet hatte, endlich wieder gemeinsam Musik zu machen.
Nach einer Stunde voller Energie und Emotionen, ergreifenden Balladen und Grooves, Posaunensoli und Gesangseinlagen von Nils, war das Konzert zu Ende und wir sahen uns alle ein bisschen fragend an. Mehr als merkwürdig: kein gemeinsames Verbeugen, kein Umarmen. Umso erleichternder war der Applaus der Crew, als die Tür des Saals geöffnet wurde. Der erste Tag ging um 19 Uhr zu Ende, ungewöhnlich früh. Der obligatorische „Festivalhang“, bei dem sich alle austauschen und Kontakte knüpfen, blieb dieses Jahr aus. Ein Bier in kleiner distanzierter Runde und ein Spaziergang am Strand, dann ging’s aufs Zimmer.
Mein zweites Konzert mit Tini Thomsen (bs), Nigel Hitchcock (as), Christin Neddens (dr) und Nils Landgren (tb) am Sonntag war für 16 Uhr geplant. Wir hatten vorher noch eine Probe ausgemacht, um die die eigens für diese untypische Besetzung ohne Harmonieinstrument geschriebenen Arrangements auszuprobieren. Um auch dem ungeschulten Zuschauer Jazz nahezubringen wurde für imposante Lightshow und spannende Kamerafahrten gesorgt. Der Regisseur tönte: „So gut wird Jazz nie wieder aussehen.“
Das ist für uns Musiker selbstverständlich zweitrangig. Aber keine Frage: eine solche Aufmerksamkeit im deutschen Fernsehen mit immerhin acht Stunden Sendezeit für eine Randgruppen-Musik wie Jazz ist gerade in dieser Zeit etwas Besonderes. So wie auch das Festival an sich. Es war schön, einen Hauch Normalität zu verspüren, zu Musizieren und gemeinsam positive Energien zu bündeln: für eine noch länger andauernde schwierige Zeit in unserer Branche. Dazu rief Nils auch mit dem JazzBaltica-Solidarity-Fond auf, der zur Unterstützung der Musiker dienen soll, die nicht die Chance hatten, Teil des Festivals zu sein. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Nils es wieder einmal geschafft, das Festival zu einem einzigartigen Erlebnis zu machen und uns in dieser Zeit daran zu erinnern, was uns am meisten fehlt: der Austausch mit anderen Menschen, das Live-Erleben von Musik, Kunst und Kultur, das unmöglich nur am Bildschirm stattfinden kann.
Die Konzerte kann man noch online streamen unter:
https://www.zdf.de/kultur/jazz-baltica